Auf 925 Millimetern durch Chemnitz – Erinnerungen an die Schmalspurige (Ergänzung: Februar 2022)

Zwischen 1880 und 1988 konnte man in Chemnitz (bzw. ab 1953: Karl-Marx-Stadt) auf Gleisen einer in Deutschland einmaligen Spurweite verkehren. Zunächst wurde die erste Strecke als Pferdebahn mit 915 mm (= 3 Englische Fuß) Spurweite eröffnet. 1893 ging mit der Strecke nach Altendorf die erste Elektrische in Betrieb. Später wollte man das wachsende Streckennetz sukzessive auf 1000 mm Spurweite verbreitern, es blieb aber bei dem ab 1908 eingeführten Maß von 925 mm. Die Entwicklung des Netzes ist von den Aufs und Abs im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen geprägt. 1914 belief sich die Streckenlänge auf 31,2 km, aufgeteilt auf acht Linien. Der Fahrzeugbestand umfasste seinerzeit 144 Triebwagen und 111 Beiwagen. Erst 1956 wurde beschlossen, die Spurweite auf Regelspur (1435 mm) zu erhöhen, was einem Komplettneubau gleich kam. Fortan wurde auf Verschleiß gefahren. Die letzten, großteils über sechzig Jahre alten, Schmalspurfahrzeuge verrichteten bis November 1988 ihren Dienst auf der verbliebenen Linie 3 nach Rottluff. Ein letztes Mal verkehrten Museumsfahrzeuge 1990 auf dem damals noch vollständig vorhandenen Innenstadtring anlässlich „110 Jahre Straßenbahn in Chemnitz“. Die umgespurten und großteils neu trassierten Linien mit Stadtbahncharakter haben das alte Netz (bisher) nur in Teilen ersetzen können. Ein Großteil der Strecken blieb in der Hand des Omnibusses, was nur als Zwischenlösung gedacht war. Kurzum: Was war in jüngster Vergangenheit noch von der alten Tram zu sehen, und welches Relikt hat bis heute überlebt?

Die naheliegendste und sicherlich ergiebigste Quelle für Zeitzeugen der Chemnitzer Straßenbahn ist natürlich das gleichnamige Museum an der Zwickauer Straße. Es befindet sich im Betriebshof Kappel. Dieser Standort wurde schon mit der ersten Pferdebahnstrecke in Betrieb genommen und ist somit der älteste Chemnitzer Betriebshof. Ehe das Depot 1953 zur Hauptwerkstatt umfunktioniert worden ist, erfuhr es immer wieder großzügige Erweiterungen. Zwischen 1983 und 1988 – dem Wechsel von Schmal- auf Regelspur – verfügte die Hauptwerkstatt kurioserweise über keinen Gleisanschluss, und die Fahrzeuge mussten per Tieflader befördert werden. Als 1995 der neue Betriebshof in Adelsberg eröffnet wurde, verloren die Anlagen in Kappel ihre Funktion. Doch zum Dornröschenschlaf kam es nicht, denn die schmalspurigen Museumsfahrzeuge wechselten vom Domizil in Altendorf nach Kappel. Hier sind die Triebwagen 15 und 1331 zu sehen. Leider ist für sie an dieser Stelle Schluss, denn Mitte 2000 wurden die letzten Gleise in der Zwickauer Straße herausgerissen (Aufnahme vom 29.07.2017).
Im Stadtzentrum hat sich seit Ende der 1990er Jahre das Bild grundlegend verändert. Im April 1999 steht in der 1967 fertig gestellten großzügig angelegten Zentralhaltestelle noch dieser Ikarus 260 als „Infomobil“, u.a. zum Fahrkartenverkauf, zur Verfügung. Hier lagen noch zwei Schmalspurgleise.
Im November 1999 haben die 32 Jahre alten Bahnsteige endgültig ausgedient. An dieser Stelle wurde 2000/01 ein „Konsumtempel“ errichtet. Im Hintergrund ist neben dem bereits gezeigten Infobus eine T3D-M-Garnitur zu sehen, die bereits an der, deutlich abgespeckten, neuen Zentralhaltestelle abfährt.
Der schon erwähnte Innenstadtring führte durch die Theaterstraße. Hier an der Kaßbergauffahrt zweigte bis 1983 die Linie 8 zur Weststraße links ab. In der Theaterstraße tauschte man die beiden Schmalspurgleise 1986 gegen ein Dreischienengleis. Allerdings ist dieses Gleis ausschließlich von der Schmalspur genutzt worden, denn die Regelspur wurde nie angebunden. Nachdem 1990 letztmals Museumsfahrzeuge verkehrten, funktionierte man die Trasse wenig später zur Busspur um, wobei die mittlere Schmalspurschiene entfernt wurde. Im Januar 2000 befand sich noch ein Relikt des Dreischienengleises in Höhe Kaßbergauffahrt. Es wurde inzwischen herausgerissen.
Am 15.10.1983 erfolgte der Verkehrsträgerwechsel von Linie 8 auf Buslinie 26 (seit April 2008 Linie 62). Am 29.04.2011 erklimmt ein, inzwischen auch in die Jahre gekommener, Mercedes Benz O 405 GN² (228) die Kaßbergauffahrt.
Wenige Meter weiter hat auch 30 Jahre nach Betriebseinstellung ein Stück Gleis überlebt.
Kurz nach Beginn der grundlegenden Sanierung der 2017 offiziell in „Karl Schmidt-Rottluff-Brücke“ benannten Steinbogenbrücke traten auf ganzer Länge der Kaßbergauffahrt wieder die 925-mm-Gleise zu Tage. 35 Jahre nach Betriebseinstellung!
Unter dem Asphalt schlummerten rund drei Jahrzehnte die Gleise der Linie 8. Zustand am 28.04.2018.
Der Blick bergwärts in Richtung Weststraße, 28.04.2018. Nun werden die Gleise endgültig verschwinden. Wer weiß, ob eines Tages wieder einmal die Straßenbahn hier hinauf fährt? Eine Machbarkeitsstudie wurde bereits vor Jahren durchgeführt, mit positivem Ausgang.
Folgt man der Theaterstraße weiter bis zur Ecke Hartmannstraße (frühere Helmut-Just-Straße) erreicht man das einstige Gleisdreieck, wo sich die Strecken nach Rottluff/Borna (Linie 3/4) und Furth-Glösa (Linie 7) teilten. Im Januar 2000 waren noch zwei Gleise vorhanden, im Sommer waren sie schon verschwunden.
Noch im Sommer 2003 erinnerte der Name eines China-Restaurants an frühere Zeiten. Auch ein Fahrleitungsmast stand noch in Insellage.
Linie 3 führte westwärts auf der Limbacher Straße durch Altendorf nach Rottluff. Kurz vor dem Streckenendpunkt befand sich der Betriebshof Altendorf, welcher durch einen Gleisanschluss auch an die Güterzugstrecke Küchwald – Wüstenbrand angebunden war. Auch hier gab es ein Dreischienengleis (925/1435mm), welches zum internen Verschub von Güterwagen mittels Straßenbahntriebwagen genutzt wurde. Bis 1995 waren hier die Museumsfahrzeuge beherbergt, ehe sie nach Kappel umzogen. Anschließend erfuhr das Depot einen Umbau und wird seitdem gewerblich genutzt. (Zustand im Januar 2000)
Auch anno 2018 sind noch Reste des Dreischienengleises im Hinterhof des ex-Depots zu finden (Zustand am 06.11.2011).
Der Endpunkt der Linie 3 an der Limbacher Straße, unweit der Rottluffer Straße. Im Sommer 1988 warteten Triebwagen 334 und ein Gotha-Beiwagen auf die Rückfahrt in das Stadtzentrum.
Seit 1989 diente die Wendeschleife den Omnibussen, u.a. bis 2008 der Linie 23 (jetzt 32). Versprühte die Wendestelle bis April 2019 noch DDR-Flair, hat man dies mit der grundlegenden Modernisierung beseitigt. Zu sehen ist der heutige Zustand am 15. April 2020 mit dem MAN NG 313 Nr. 381 (Bj. 2005).
Linie 4 folgte der Leipziger Straße nach Nordwesten bis zur Bornaer Straße. Wie in Rottluff diente die einstige Wendeschleife anschließend dem Busverkehr. Im Oktober 1998 wendete ein Ikarus 280.02 in Borna – damals schon der Ausnahmefall auf der Stadtbuslinie 21. Die letzten Bahnen wendeten hier am 20.12.1975. Zwischen 2000 und 2008 blieb die Schleife auch von Bussen ungenutzt. 2018 reifen wieder Pläne für eine Straßenbahnneubaulinie entlang der Leipziger Straße.
Linie 7 folgte der (heutigen) Blankenauer und Chemnitztalstraße nordwärts. Unterhalb der Bahnstrecke nach Leipzig kamen bei der Straßensanierung im Sommer 2009 wieder die Gleise zum Vorschein. Schon am 21.02.1972 wurde Linie 7 als erste auf Omnibusbetrieb umgestellt.
Linie 8 führte über die steigungsreiche Frankenberger Straße durch Hilbersdorf nach Ebersdorf (bis 1975). Im Bereich Margaretenstraße/Klarastraße haben bis heute einige Haken der Fahrleitungsaufhängung an den Häuserfassaden überlebt.
Die Wendeschleife in Ebersdorf wurde erst 1968 errichtet und war somit gerade einmal sieben Jahre in Betrieb. Zuvor musste auf der Frankenberger Straße umgesetzt werden. Die Schleife befand sich auf dem Terrain hinter Bus und Litfaßsäule. Links ist das ehemalige Dienstgebäude zu sehen, es fungiert heute als Eisdiele. Durch den Bau der Schleife verlängerte sich die Strecke um etwa 50 Meter. Die Buslinie 21 hat ihre Wendeschleife wiederum zirka 500 Meter weiter nördlich.
Etwas abseits der alten Linie 8 hat ein Teil des Wagenkastens 234“ (ab 1975: 334) als Gartenlaube in Hilbersdorf die Zeiten überdauert.
Der Betriebshof Planitzstraße (später Leninstraße, an der heutigen Heinrich-Schütz-Straße) war einst der größte in Chemnitz. In Spitzenzeiten bot er Abstellfläche für 230 Fahrzeuge. Nachdem er ab 1976 nicht mehr ans Gleisnetz angebunden war, diente er der NVK/CVAG noch bis 1995 als Bushaupt- und Betriebswerkstatt. Das südliche Gleisvorfeld an der Heinrich-Schütz-Straße blieb bis 2014 erhalten. Im Zuge des Um- und Ausbaus des benachbarten Fußballstadions wurden die Anlagen im ersten Quartal 2014 abgebrochen. Blick auf die Nordseite (Zufahrt Gellertstraße) am 09.06.2012.
Das Südvorfeld des ehemaligen Betriebshofes Planitzstraße, Blick zur Heinrich-Schütz-Straße. „Man könnte ja nochmal…“
Nein, man kann nicht nochmal! Am 02.03.2014 lag der Betriebshof Planitzstraße in Trümmern. Heute befinden sich hier Parkplätze für das neue Stadion des mittlerweile in der Regionalliga (4. Fußballliga) herumdümpelnden CFC.
Einige Meter von der Trasse der ehemaligen Linie 1 bzw. 7 entfernt hatte Triebwagen 228“ (ab 1975: 328) nahe der Hofer Straße als Teil einer Gartensparte überlebt (Aufnahme vom 04.05.2012). Um die drohende Verschrottung zu verhindern, holte ein Privatmann im Sommer 2019 das Fahrzeug nach Grüna.
Die Linie 5 nach Altchemnitz wurde als erste Linie zwischen 1958 und 1961 umgespurt. Demzufolge finden sich hier kaum noch Relikte aus der Schmalspurzeit. Das nach den Kriegszerstörungen 1945 neu aufgebaute Depot des Betriebshofes „DSF“ in Altchemnitz überlebte die Umspurung und diente bis in die frühen 2000er Jahre noch als Buswerkstatt. Heute beherbergt es eine Autowerkstatt (Zustand am 20.03.2014).
Die Linie 1/13 nach Siegmar wurde etappenweise stillgelegt: Der zuletzt nur spärlich befahrene Abschnitt Industriewerk – Siegmar im Mai 1980, der Rest ein Jahr später. Am Industriewerk befand sich ein Wendedreieck. Das Stumpfgleis in der Guerickestraße wurde auch als Abstellgleis genutzt. Noch heute ist ein Stück davon gut erhalten geblieben. Im Hintergrund ist die 1988 eröffnete Neubaustrecke nach Schönau zu sehen. Das Stumpfgleis verendete einige Meter weiter hinten im Straßenpflaster.
Der Blick in die Gegenrichtung, als Triebwagen 228″ am 31. Juli 2019 auf der Zwickauer Straße nach Grüna überführt wurde.
Schließen wir unsere Rundreise auf 925mm wieder am Ausgangspunkt ab:
Zum „Tag der Industriekultur 2012“ konnte der historische Schmalspurtriebwagen 251 (Bj. 1929, Waggonfabrik Busch, Bautzen) im Straßenbahnmuseum Kappel mal wieder zeigen, dass er es noch kann – fahren aus eigener Kraft! Viel Auslauf haben die Schmuckstücke leider nicht mehr. Am 16.09.2012 verließ der frisch hauptuntersuchte Wagen das Depot in Kappel.

© 2013, 2015, 2018, 2022 MBC

Das könnte dich auch interessieren …

2 Antworten

  1. Ronny Brühl sagt:

    Hallo,

    Danke für den guten Bilderbogen!
    Jedoch wurde ein Stück Gleis vergessen, was heute noch sichtbar sein sollte, Chemnitz Gablenz in der Ulbrichtstraße!

    Viele Grüße Ronny

    • Kegel sagt:

      Das alte Gleis liegt immer noch / Endhaltestelle der Linie 3 und 4 Bernsdorf / und ist noch in Google Maps zu sehen – die Ulbrichtstraße befindet sich in Bernsdorf.
      Die Straßenbahn kam von der Bernsdorfer Straße aus der Innenstand rechts auf die Ulbrichtstraße hochgefahren und fuhr dann rückwärts wieder runter auf die Bernsdorfer Straße – diesmal nach links, damit sie wieder in die Stadt fahren konnte…..

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert